Montag, 1. März 2010

Air Condition

Gestern, beim Spazierengehen, führte der Zufall mich an den Eingang eines Friedhofs, und weil ich mich wunderte, dass ich den noch nie bemerkt hatte, obwohl ich diese Straße schon unzählig oft auf- und abgelaufen bin, ging ich durch das Tor.
Vor mir erstreckten sich weitflächig Gräber, die offenbar nur selten gepflegt werden. Große, alte Bäume, Birken zumeist, gaben dem Ganzen einen parkähnlichen Charakter, aber für einen richtigen Park waren es zu wenige und überhaupt die Requisiten insgesamt zu unglamourös.
In der Nähe des Eingangs stand eine kleine alte Frau, die, lebte sie in einem Märchen der Gebrüder Grimm, wohl "Mütterchen" genannt würde. Das Mütterchen kam direkt auf mich zu.
"Keine Angst, ganz allein hier?", fragte es und blickte mich aus hellblauen Augen gut gelaunt an.
"Nein, wieso?"
"Ganz allein auf dem Friedhof!"
"Aber es ist doch noch hell. Und überhaupt..."
"Ich hier gearbeitet, früher", fuhr sie fort.
"Ist das schon lange her, dass Sie hier gearbeitet haben?", fragte ich.
"Viele Jahre her."
"Kommen Sie aus Rumänien?", riet ich. Ihr Akzent klang osteuropäisch.
"Polen."
"Aha", erwiderte ich einfallslos, weil ich noch nie in Polen war. Die einzigen Assoziationen, die ich spontan hatte, waren zwei Weltkriege und tolle elektronische Musik. Beides erschien mir im Augenblick wenig angebracht.
"Hier habe ich angefangen, als ich nach Deutschland kam. Schrecklicher Friedhof!"
"Finden Sie?"
"Ja! Schrecklich! Nur ein Jahr hier. Dann woanders gearbeitet. Anderer Friedhof. Viel schöner!"
"Und warum haben Sie sich gerade diese Arbeit gesucht?", fragte ich.
"Ich wollte an der frischen Luft sein", kam die Antwort.
Das überzeugte mich.
"Kann ich gut verstehen. Besser als den ganzen Tag im Büro sitzen."
"In Polen immer an der frischen Luft gearbeitet", sagte sie. "Frische Luft ist gut."
Dann nahm sie meinen Ellbogen und führte mich den Weg hinauf. Sie zeigte mir die Aussegnungshalle, die sie nur "die Halle" nannte, und das Grab ihrer Freundin, die auch hier gearbeitet hat. Dann deutete sie auf ein weiter hinten gelegenes Areal voller kleiner schwarzer eckiger Steine, ordentlich in Reih und Glied. "Soldatengräber", sagte sie. "Alles Soldaten".
Wir ließen die Soldaten Steine sein und gingen den Weg weiter hinauf und dann durch die Grabreihen wieder zurück zum Tor. Hier zeigte sie mir in ihrem Geldbeutel das Foto ihrer jüngsten Enkeltochter. "Sechzehn", sagte sie stolz.
"Sehr hübsches Mädchen", sagte ich wahrheitsgemäß.
Dann verabschiedeten wir uns, und ich frage mich, was die Frau mit dem hellblauen Blick in diesem Augenblick gerade macht. Einen Spaziergang vielleicht. An der frischen Luft.