Dienstag, 18. November 2008

Keine Verbindung

Von hier oben ist alles halb so wild. Halb so laut. Halb so stinkend. Halb so falsch. Hier oben sieht man den Leuten auf den Scheitel statt ins Gesicht (bzw. auf den Hut, die Glatze oder den Lockenschopf). Jedenfalls sieht man die Leute so wie man sie gerne sieht: aus der Ferne, in Bewegung.
Man sieht auf die ausgefahrenen Jalousien der Geschäfte, auf Baumkronen und auf Litfasssäulen. (Ein seltener und also wertvoller Anblick: die Dinge, die sich im Lauf der Zeit im Deckel der Litfasssäule angesammelt haben: eine leere Zigarettenschachtel, ein paar Zigarettenstummel, ein Stück bunt bedrucktes Glanzpapier, in dem vor Tagen, Wochen oder Jahren, wer weiß das schon, ein Schokoriegel stak oder ein Eis am Stiel. Wie sind diese Dinge hier her gekommen? Hat sie jemand aus einem der oberen Stockwerke aus dem Fenster geworfen? Hat sie der Wind hier her geweht? Oder hat sich’s ein Vogel mitten im Nestbau anders überlegt und befunden, dass man doch besser nur mit Naturmaterialien baut?)
Wenige hundert Meter weiter, genau so weit über dem Boden wie ich, schwebt ein Teil von mir, hängt in der Luft, genau wie ich, und weiß nicht, warum. Ich habe ihn dort zurück gelassen, dort drüben, vierter Stock im Vorderhaus, und es scheint, als gebe es keine Verbindung mehr. Ich möchte eine Schnur spannen, ein Seil oder einen Draht. Von hier, vom Fenster aus über die Straße, mitten durch die Häuserreihe gegenüber, über drei, vier Hinterhöfe und ein paar weitere Straßen. (Dass die Leute in ihren Zimmern komisch gucken würden, wenn auf einmal ein Draht quer durch ihre Wohnung gespannt wäre, überm Esstisch und mitten durchs Kinderzimmer, wäre mir egal!) Er müsste nicht einmal besonders lang sein, der Draht, wie gesagt: wenige hundert Meter. Aber leitfähig müsste er sein. Leitfähig und trotzdem nicht unter Hochspannung. Anfassen müsste man ihn schon können, ohne sich in Lebensgefahr zu begeben. Aber so einen Draht finde ich nicht. Ich weiß auch nicht, wo ich noch suchen soll. Und die Schnurlosvariante hat hier sowieso keinen Sinn, denn es gibt kein Netz.
Also lasse ich das mit der Schnur und beobachte die Köpfe, die auf zu kleinen Körpern unter dem Südstern verschwinden, einer nach dem anderen. Die Zigarettenschachtel liegt noch genauso auf dem Boden ihres Litfasssäulendachgartens wie vorhin, nur das Eispapier ist an den Rand geweht worden. Immerhin hat sich ein Vogel dazugesellt. Und dem ist es egal, ob das, was um ihn herum flattert, von den Menschen „Müll“ genannt wird.