Donnerstag, 16. Juni 2011

Viktoriapark

Vor ungefähr einer Stunde im Viktoriapark sitzt man auf der Bank und liest einen Satz, der in Stein gemeißelt gehört, aber weil man weder Stein noch Meißel hat und überhaupt mehr fürs Lebendige ist, schreibt man ihn, den lebendigen Satz, lieber in das Buch, das man für solche Zwecke bei sich trägt. Der Satz, von dem die Rede ist, geht so:
"Erst mit der Wahrnehmung - dem griechischen 'aisthesis' - wird das möglich, was wir brauchen, nämlich das schauende Erkennen des Schönen und das reflektierende Denken des Machbaren, das auch den Weg zum Richtigen weist."
Kaum hat man den Satz, damit er bleibt, ins Buch übertragen, erscheint eine Frau, schätzungsweise Mitte vierzig, auf der Bildfläche, und klappert im Mülleimer, auf der Suche nach leeren Flaschen. Tatsächlich wird sie fündig. Sie zieht eine Bierflasche aus dem Müll und legt sie in ihren Trolli, zu den anderen, die sie bereits gesammelt hat. Ich schätze, es war absolut total daneben, aber ich konnte nicht anders als die Frau zu fragen, ob das nicht ziemlich mühselig sei (wissend, dass man für eine leere Bierflasche 8 Eurocent bekommt, wenn man sie in den Laden trägt). Die Frau strahlte mich an und erzählte, dass sie heute schon 2 Euro eingenommen habe. Das sei ihr "Zubrot für Sonderausgaben". Im Mai habe sie auf die Weise 150 Euro zusammenbekommen, allerdings sei das nicht immer so, dass die Leute "so leichtsinnig" seien und ihre Bierflaschen einfach so wegwerfen würden. Dann erwähnte sie noch, dass sie "tagsüber eher nicht in Mülleimern" kramen würde, "aber jetzt so in der Dämmerung..." Die Frau wünschte mir "schönen Abend noch" und ich ihr dasselbe. Die Frau zog weiter, zum nächsten Mülleimer. Und ich zum nächsten Absatz in meinem Buch, das von Schönheit erzählt und von Natur und vom Machbaren und vom Richtigen. Und ich weiß, dass es stimmt, aber nicht, wie es geht.